Verwandlung durch tätiges Mitgefühl

 

Franz von Assisi sagt zu Beginn seines Testaments, dass ein ungewöhnlicher Akt des tätigen Mitgefühls am Anfang seines neuen Weges gestanden habe:

 

Der Herr verlieh mir, Bruder Franz, den Anfang des neuen Weges auf folgende Weise: Als ich [nämlich noch] in Sünden lebte, kam es mir sehr bitter an, Aussätzige zu sehen. Aber der Herr selbst führte mich unter sie, und ich erwies ihnen Barmherzigkeit (misericordia). Als ich von ihnen ging, ward mir dasjenige, was mir vorher bitter vorgekommen war, in Süßigkeit [für den Geschmack] der Seele und des Leibes verwandelt. Dann zögerte ich [nur noch] ein wenig und ging aus der Weltlichkeit. [Übersetzung nach Otto Karrer und Walter Nigg]

 

Unter Bezugnahme auf das Testament berichtet die sog. Drei-Gefährten-Legende ausführlicher:

 

[Er] begegnete [...], nahe bei Assisi reitend, einem Aussätzigen. Bisher hatte er vor solchen einen mächtigen Ekel empfunden. Aber siehe, nun stieg er, sich Gewalt antuend vom Pferde, reichte jenem einen Gulden und küßte ihm die Hand. Auch jener gab ihm den Kuß des Friedens. [...] Kurz danach nahm er eine große Summe Geldes mit sich und begab sich ins Siechenhaus. Und indem sich alle Aussätzigen um ihn zusammenfanden, reichte er einem jeden seine Gabe und drückte ihm die Hand. Und als er von dannen ging, war wirklich in Süße für ihn verwandelt, was vorher bitter gewesen: die Aussätzigen zu sehen und anzurühren ... Wie er in seinem Testament bezeugt, machte es ihm Freude, bei ihnen zu weilen und ihnen demütig zu dienen. Als er nach dem Besuch der Siechen die Verwandlung spürte, [sagte er ...], er habe einen kostbaren Schatz gefunden. [Übersetzung nach Otto Karrer]

 

Die mitfühlende Tat des Franz von Assisi zeichnet sich dadurch aus, dass sie

 

- die Grenzen des üblichen, durch Vernunft und Konvention beschränkten Mitgefühls, das die Aussätzigen ausdrücklich nicht einbezog, überschreitet

 

- offensichtlich durch einen unmittelbaren Kontakt mit den Hilfsbedürftigen ermöglicht wurde

 

- Franziskus nachhaltig verwandelte und wohl der entscheidende Schritt zu einem entgrenzten, universellen Mitgefühl mit allen Wesen war.

 

Bemerkenswert ist, dass am Anfang des Weges des universellen Mitgefühls keine Erkenntnis, sondern eine Tat steht.