Franziskus predigt Tieren

Giotto: Vogelpredigt, um 1300

Mit einer Vogelpredigt begannen nach Thomas von Celano die Predigten des Franziskus an alle belebten und unbelebten Geschöpfe:

 

Während sich inzwischen, wie erwähnt, viele den Brüdern beigesellt hatten, zog der hochselige Vater Franziskus  durchs Spoletotal. Er wandte sich einem in der Nähe von Bevagna gelegenen Ort zu. Dort war eine große Schar von Vögeln aller Arten versammelt: Tauben, kleine Krähen und andere, die im Volksmund Dohlen heißen. Als der Diener Gottes sie erblickte, ließ er seine Gefährten auf dem Wege zurück und lief rasch auf die Vögel zu, war er doch ein Mann mit einem überschäumenden Herzen, das sogar den niederen und unvernünftigen Geschöpfen (inferiores et irrationabiles creaturas!) in hohem Grade innige und zärtliche Liebe entgegenbrachte. Als er schon ziemlich nahe bei den Vögeln war und sah, dass sie ihn erwarteten (praestolarentur!), grüßte er sie in gewohnter Weise. Nicht wenig aber staunte er, dass die Vögel nicht wie gewöhnlich auf- und davonflogen. Ungeheure Freude erfüllte ihn, und er bat sie demütig, sie sollten doch das Wort Gottes hören. Unter anderem sagte er zu ihnen: „Meine Brüder Vögel! Gar sehr müsst ihr euren Schöpfer loben und ihn stets lieben; er hat euch Gefieder zum Gewand, Fittiche zum Flug gegeben und alles, was ihr nötig habt. Vornehm machte euch Gott unter seinen Geschöpfen, und in der reinen Luft schuf er euch Wohnung. Ihr sät nicht und erntet nicht, und doch schützt und leitet er euch, ohne dass ihr euch um etwas zu kümmern braucht.“ Bei diesen Worten jubelten jene Vögel auf ihre Art und fingen an, die Hälse zu strecken, die Flügel auszubreiten, die Schnäbel zu öffnen und auf ihn hinzublicken, wie er selbst und die bei ihm befindlichen Brüder erzählten.Er aber wandelte in ihrer Mitte auf und ab, wobei seine Kutte ihnen über Kopf und Körper streifte. Schließlich segnete er sie, und nach dem Kreuzzeichen über sie gab er ihnen die Erlaubnis, wegzufliegen. Da zog nun auch Franziskus mit seinen Gefährten freudigen Herzens weiter und dankte Gott, den alle Geschöpfe auf ihre Art bekennen und verehren. Da er schon einfältig war durch die Gnade, nicht von Natur aus, so begann er sich selbst der Nachlässigkeit anzuklagen, dass er nicht schon früher den Vögeln gepredigt hatte, da sie doch mit so großer Ehrfurcht das Wort Gottes anhörten. Und so geschah es, dass er von jenem Tag an alle Lebewesen (animalia!), alle Vögel (volatilia!) und alle kriechenden Tiere (reptilia!) sowie auch alle unbeseelten Geschöpfe (creaturas quae non sentiunt!) eifrig ermahnte, ihren Schöpfer zu loben und zu lieben; denn Tag für Tag konnte er aus eigener Erfahrung sich über ihren Gehorsam vergewissern, sobald er nur den Namen des Erlösers angerufen hatte. [Thomas von Celano, Erste Vita 58; Übersetzung Anton Rotzetter]

 

Anton Rotzetter führt für die Historizität der Vogelpredigten einen Bericht über eine misslungene Vogelpredigt an:

 

Es erzählte Bruder Massäus, der zugegen war, als der selige Franziskus den Vögeln predigte: Während dieser ganz in Andacht versunken längst des Weges eine Menge Vögel fand, denen er predigen wollte, wie er es früher schon bei anderen getan hatte. Doch als diese den seligen Franziskus sich ihnen nähern sahen, flohen sie alle weg, und keiner wartete wirklich. Wieder zu sich gekommen, begann er sich heftig zu tadeln und zu schmähen, indem er sagte: „Verwegener und eingebildeter Sohn des Pietro Bernardone!“ Denn er wollte, dass die vernunftlosen Kreaturen seinem Befehl gehorchten, wie sie es ihrem Schöpfer gegenüber tun. Darum, wenn du es wohl bedenkst, Leser, so war dies eine Bestätigung des vorhergehenden Zeichens und bewahrte Franziskus vor aufgeblähtem Hochmut, falls solcher überhaupt im Sinn des seligen Vaters Franziskus hätte entstehen können. [Rufinus Bengarmi, 1290; Übersetzung Anton Rotzetter]